die randschau


Die 90er Jahre: eine neue Redaktion

 

Rückblickend erscheint die Zeit der zweiten randschau-Redaktion wie eine Zeitreise in ein längst vergangenes Deutschland, das mit den Auswirkungen der frisch zusammen gezimmerten staatlichen Einheit und ihren Widersprüchen zu kämpfen hatte und in dem für die in den Jahren zuvor mühsam erkämpften Ansprüche auf ein selbstbestimmtes Leben wenig Raum zu bleiben schien. Zwar brannte die soziale Frage angesichts der massenhaften Abwicklung ganzer Wirtschaftszweige im Osten auf den Nägeln, doch waren es eher die Streiks der Kali-Kumpel von Bischofferode und anderen Belegschaften, die die Schlagzeilen beherrschten. Die Frage, wie Behinderten elementare Menschenrechte zu ermöglichen seien, schien demgegenüber aus der Öffentlichkeit weitgehend verschwunden und eher ein Nischenthema zu sein. Gleichzeitig machten viele Behinderte in den neuen Bundesländern ihre ersten Erfahrungen nicht nur mit dem bundesdeutschen Kapitalismus und seiner Sozialbürokratie, sondern auch mit den Ideen der Behindertenbewegung in der alten Bundesrepublik. Vieles davon mutete zunächst utopisch und realitätsfern an, zudem drohte auch in der Behindertenszene ein ähnlicher Prozess wie auf der „großen“ politischen Bühne. Oftmals herrschte die Angst vor der Übernahme und geistigen Enteignung durch eine westlich geprägte (Krüppel-)Elite, durch die die eigenen Erfahrungen und Kämpfe in der DDR in Vergessenheit zu geraten drohten. Ostdeutsche Aktivisten gründeten deshalb einen eigenen Verband, den Allgemeinen Behindertenverband in Deutschland (ABiD) , mit einer eigenen Zeitung, der „Stütze“, die in einem spannungsreichen Verhältnis neben der als „westlastig“ empfundenen randschau bis 1996 existierte.